Unpopular Opinion – Selbstachtsamkeit ist gar nicht so gut, wie alle denken!

„Jetzt bin ich mal an erster Stelle!“, „Ich muss mich jetzt mal um mich kümmern!“ – Sätze die dann fallen, wenn sich ein Mensch zu sehr um andere gekümmert, bemüht oder zu sehr auf sie konzentriert waren. Sätze die dann fallen, wenn es „Klick“ gemacht hat und der Mensch für sich gemerkt hat: „Ich bin auch wertvoll und ich bin MIR wichtig!“ Bis hier hin alles gut und alles sinnvoll.

Wenn man jetzt ein gutes Mittelmaß zwischen „ich kümmere mich mal um mich“ und „ich bin nicht allein auf dieser Welt“ findet, dann ist „Selbstachtsamkeit“ auch genau so gut und sinnvoll wie es klingt…..Wenn!

Selbstachtsamkeit vs. Ich-Fixierung

Starten wir mit einem Zitat von Thomas Joiner, Professor der Psychologie:

„Viele Achtsamkeitstrainings fehlt das Moment der Demut. Dem ursprünglichen Geist nach soll uns Achtsamkeit Bescheidenheit und Distanz lehren. […] Der gegenwärtige Hype um die Achtsamkeit stellt den Einzelnen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt.“

spektrum.de 11.09.2018 „Der Hype um die Achtsamkeit“

Dieses Zitat trifft den Kern der Problematik doch schon gut. Ist „Selbstachtsamkeit“ nicht zu oft einfach nur ein „sich selbst wichtiger nehmen, als die anderen“? Ich möchte das mit einem kleinen, nicht wirklich aufregendem, aber dennoch passenden Beispiel zeigen:
Wenn ich einem Freund schreibe und ihn etwas frage und er erst unverhältnismäßig spät antwortet und seine Entschuldigung beginnt mit den Worten „Sorry, ich hab mal etwas Zeit für mich gebraucht!“, ist das achtsam oder egoistisch? Meine Antwort wäre klar: zweiteres.

Selbstachtsamkeit wird immer mehr zum Alibi dafür, sich für nichts und niemanden rechtfertigen zu müssen oder wollen. Man kann jetzt im Grunde jegliches Verhalten „salonfähig“ machen, da man im Internet genug Menschen findet, die Bestätigung geben. Und schon sind viele Dinge normal, die es früher nicht waren: Nacktheit, unverhältnismäßige Streiks, menschenverachtende Trends. Wenn es genug mit machen, wird es akzeptiert. Dazu gehört leider auch sich selbst über alles und alle anderen zu stellen.

Sich lang nicht bei den Freunden melden? – „sorry, its me-time!“

Textnachrichten nicht beantworten? – „ich kann ja wohl frei und allein entscheiden, wann und ob ich antworte!“

Verabredungen auf den letzten Drücker absagen oder sich gar nicht melden? – „ich brauchte mal Abstand zu allem!“

Das Bedenkliche dabei? So funktioniert weder Kommunikation, noch die Gesellschaft. Und Achtsamkeit erst recht nicht. Wir stehen immer in wechselseitiger Abhängigkeit zu unserem sozialem Umfeld – Interdependenz genannt. Und das was wir geben, das bekommen wir. Also sollte unsere Einfluss und unser „Input“ bestmöglich positiv und wertschätzend sein. Und das sind diese Aussagen sicher nicht.

Das zweite große Problem? Wir glorifizieren Fehlverhalten – und das im Übermaß! (schau dir dazu gerne kurz das Video hier von mir an: https://www.instagram.com/p/CrlzNcmgCyZ/)

Wir verschaffen uns selbst einen Vorteil (damit meist den anderen auch einen mitunter unverdienten Nachteil) und rechtfertigen dies uns selbst gegenüber. Und es finden sich sicher ein paar hundert Menschen, die das genau so sehen – und zack, ist es okay.

Selbst erlebtes Beispiel: Sich in einer Reihe vorzudrängeln und dies mit „Man muss Dinge manchmal anders tun als andere“ ist eben nicht in Ordnung – das ist sogar ziemlich falsch auf allen moralischen und menschlichen Ebenen. Das Verhalten an sich und vor allem die Rechtfertigung danach.

Die Wahrheit ist: Dieses toxische Achtsamkeitsverhalten ist eine zu starke „Ich -Fokussierung“. Uns ist in bestimmten Momenten einfach egal, was die anderen denken. Uns ist egal, was die anderen fühlen – wir schauen nur auf uns. Wir wollen nur uns selbst einen Vorteil verschaffen – spätestens jetzt merkt man vielleicht, dass da nicht mehr viel „Achtsamkeit“ im Spiel ist.

„Richtige Selbstachtsamkeit“ ist genau das Gegenteil – Entschleunigung, Distanz aufbauen, jedoch zum Alltag. Distanz aufbauen zum Erfolgsdruck, zum Karrieretrieb und zum „sich selbst ständig optimieren müssen“. Denn wenn wir das schaffen, werden wir merken: „Ich bin gar nicht so wichtig und muss mich auch nicht wichtig nehmen und es geht gar nicht immer ums voran kommen“. Und mit dieser Basis kann man dann ganz schnell auch mal seinen Freunden antworten, offene Einladungen beantworten (das darf dann ja trotzdem ein „nein“ sein) oder uns einfach mal mit den Menschen auseinander setzen, die das vielleicht von uns erwarten. Wir dürfen erkennen, dass wir einfach mal „sein können“ und das mit den wichtigen Menschen um uns herum. Denn was wir geben, werden wir bekommen.

Wenn du also das nächste mal deine „Achtsamkeitsphase“ hast – nutze sie. Allein sein tut gut, allein sein hilft. Nur wer mit sich selbst allein sein kann, ist wirklich frei. Aber sag deinen Freunden vorher Bescheid oder beziehe sie ein.

Sei kein Egoist – sei achtsam.

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